AG Medical Anthropology

Oktober 2003 / Hamburg

DGV-Tagung 2003, Hamburg: „Methoden und Ansätze der qualitativen Datenanalyse“

Panel „Medical Anthropology“:

„Zum Verhältnis von methodischer Praxis, Erkenntnisgenerierung und Forschungsgegenstand in der Medical Anthropology“

Leiden, eigene Betroffenheit und Handlungsimperativ bilden (gemeinsam mit Körperlichkeit und der Unterscheidung illness/disease) als zentrale Punkte die Grundlage der Medical Anthropology. Aus der eigenen Betroffenheit durch Leiden folgen die Aufforderung oder der Drang tätig zu werden und damit der Handlungsimperativ als begleitender Aspekt. Diese drei Aspekte verbinden die Medical Anthropology deutlich mit der Biomedizin, auch wenn der Biomedizin ein anderer fachlicher und methodischer Umgang mit diesen Aspekten zugrunde liegt. Im Gegensatz zu den Gesundheitswissenschaften und anderen Fächern hat die Medical Anthropolog darüber hinaus kein Feld der Beschäftigung und Positionierung abgesteckt, das als genuin medizinethnologisch gelten kann, sondern definiert weiterhin weite Bereiche ihrer Zuständigkeits- und Kompetenzanspräche zwar in Abgrenzung zur Biomedizin, doch letztendlich auf der Basis ähnlicher Kategorien wie diese. In Betrachtung der pathogenen Seite, von therapeutischen Aspekten, von Leid und der Fixierung auf den Körper bleibt sie der Biomedizin verhaftet. Einen Versuch, ein solch eigenständiges Feld zu umreißen, stellt in der Medical Anthropology das Konzept social suffering dar, das eine stärkere Öffnung zu Fragen des kulturellen Zugangs ermöglicht und Leid jenseits des Körpers auch gesellschaftlich verankert. Letztendlich jedoch bleibt auch social suffering im Bereich des Leidens verhaftet.

An diesen Bemühungen sollen u. a. die Untersuchungen des Panels zu Methoden und Methodologie ansetzen. Von den Gemeinsamkeiten mit der Biomedizin bezüglich der Aspekte „Leid“, „eigene Betroffenheit“ und „Handlungsimperativ“ wollen wir uns im zweiten Teil den Unterschieden nähern. Die methodischen Dimensionen der Erfassung von „Leid“ sollen am Beispiel des Selbstmords junger Menschen in Indien dargelegt werden. Dem Umgang mit der „eigenen Betroffenheit“ nähert sich das Panel beim Thema Organ­transplantation und der Problematik des „Handlungsimperativs“ in einer Abhandlung der methodischen Implikationen, die sich aus der Doppelrolle als Arzt und Ethnologe ergeben können. Am Beispiel des Risikobegriffs bei Schwangerschaft und Geburt soll diskurs­analytisches Arbeiten „jenseits biomedizinischer Wirksamkeit“ präsentiert werden, und der Beitrag zu HIV/AIDS soll zeigen, wie auf der methodologischen Ebene in der Analyse und Interpretation von Metaphern eine andere Sicht auf Körper und damit „Zugang zu Kultur“ entsteht.

Die hierin angelegte Akzentverschiebung von Leid zu Kultur relativiert zum einen den Anspruch, Leiden zu vermindern; zum anderen ermöglicht sie in der Betrachtung von Krankheit als kultureller Erscheinung einen anthropologischen Zugang. Gleichzeitig geht das Panel jedoch davon aus, dass auch eine anthropologischere Annäherung an Krankheit und Gesundheit eine reflexive Auseinandersetzung mit Leid und eigener Betroffenheit nicht ausschließt. In der Schlussbetrachtung werden die einzelnen Aspekte in ihrer Gesamtheit und Konstellation zueinander gefasst und in eine kurze Abhandlung der bisherigen Methodendebatte eingebettet. Die Ergebnisse der Vorträge werden dann auf einem allgemeineren Abstraktionsniveau dazu betrachtet. Dies soll ermöglichen, allgemein gültige methodische/methodologische Schlussfolgerungen für die Medical Anthropology (und die qualitative Sozialforschung) zu ziehen.

Information: Angelika Wolf / Hansjörg Dilger (angewolf@zedat.fu-berlin.de; hansjoerg.dilger@berlin.de)

 

ABSTRACTS

Stefan Ecks „Selbstmord: Reflexionen über die medizin-ethnologische Erforschung des Leidens“ (Indien)
Vera Kalitzkus „Subjektivität und Reflexivität im qualitativen Forschungsprozess. Eine Studie zu Organtransplantation in Deutschland“
Michael Knipper „(Be-)Handeln und Forschen. Methodische Konsequenzen aus dem „Handlungsimperativ“ in der Medizin­ethnologie“ (Ecuador)
Elsbeth Kneuper „Diskursanalyse und Medizinethnologie“ (Deutschland)
Angelika Wolf „Teilnehmende Beobachtung auf dem Prüfstand: Grenzen und deren Überwindung in einer Forschung zu HIV/AIDS“ (Malawi)

 

„Selbstmord: Reflexionen über die medizin-ethnologische Erforschung des Leidens“ (Indien)

Stefan Ecks
Südasien-Institut, Universität Heidelberg

Selbstmord ist in den letzten Jahrzehnten zu einer der weltweit führenden Todesursachen geworden. Besonders betroffen sind Menschen über 60 Jahre und die Jüngeren (in der Altersgruppe der 15- bis 34-jährigen rangiert Selbstmord global unter den drei häufigsten Todesursachen). Kaum ein anderes Thema stellt aber ähnlich große Schwierigkeiten an die medizinethnologischer Forschung. Viele Methoden, die sonst zum Standard einer medizinethnologischen Studie gehören, müssen bei der Untersuchung von Selbstmord radikal überdacht werden: was, zum Beispiel, leistet die „teilnehmende Beobachtung“ im Kontext extremer Tabuisierung von Seiten der Angehörigen? Wann kann mit Angehörigen gesprochen werden, wie viel Zeit muss man verstreichen lassen? Auch die ethischen Aspekte einer solchen Forschung sind enorm: Trauma, Scham und Sprachlosigkeit machen direkte Interviews zu einer ethisch bedenklichen Methode. Wie kann man durch Selbstmord verursachtes Leid als Phänomen im sozialen Kontext untersuchen? Das bisher fast vollständige Schweigen der Ethnologen zum Problem des Selbstmords kann wesentlich auf die scheinbar unüberwindlichen methodischen und ethischen Hindernisse zurückgeführt werden. Der Vortrag will vor allem über das Thema „Leiden“ reflektieren, insbesondere im Hinblick auf die social suffering Debatte in der Medizinethnologie.

 

„Subjektivität und Reflexivität im qualitativen Forschungsprozess. Eine Studie zu Organtransplantation in Deutschland“

Vera Kalitzkus
Gesellschaft zur Förderung medizinischer Kommunikation e. V., Abt. medizinische Psychologie, Universität Göttingen

Die Chance qualitativer Forschung zu Gesundheit, Krankheit und Tod – insbesondere in gesellschaftlich stark umstrittenen Bereichen – liegt in ihrem Potential, ein äußerst komplexes Bild der Realität und ihrer zum Teil unvereinbaren Komponenten zu zeichnen. Am Beispiel meiner Forschung im Bereich Organtransplantation in Deutschland möchte ich die Chancen (dichte und eng an die Lebenswelt angelehnte Analyse) und Risiken (Gratwanderung zwischen persönlicher Betroffenheit und distanzierter Analyse), die eine qualitative Forschung in einem sozio-politischen Konfliktfeld und zu einem emotional belastenden Thema beinhalten kann, exemplarisch erläutern. Nur die persönliche Involviertheit ermöglicht eine dichte, erlebnisnahe Beschreibung. Einsichten in den soziokulturellen Kontext des Leidens, in das social suffering der Betroffenen, werden dagegen erst über die distanzierte wissenschaftliche Analyse ermöglicht. Der Schwerpunkt des Vortrages wird auf den Formen methodischer Reflexion liegen, die es erlauben, die subjektive, individuelle Erfahrung auf ihre sozio-kulturellen Komponenten hin zu analysieren und auf den gesellschaftlichen Kontext zurückzuführen. Hierzu gehören: detaillierte Aufzeichnungen auch persönlicher Art des gesamten Forschungskontextes, detaillierte Vor- und Nachbereitung von Interviews oder Feldaufenthalten sowie die Begleitung der Forschung wie auch der Analysephase durch Supervision, die eine professionelle Reflexion und Begleitung von außen ermöglichte.

 

„(Be-)Handeln und Forschen. Methodische Konsequenzen aus dem „Handlungsimperativ“ in der Medizin­ethnologie“ (Ecuador)

Michael Knipper
Institut für Geschichte der Medizin, Justus-Liebig-Universität Gießen

Der Umgang mit kranken, leidenden Menschen fordert zum Handeln auf, auch im Kontext medizinethnologischer Forschung: In der Begegnung mit Informanten, die selbst erkrankt sind oder kranke Angehörige betreuen, ist jede/r medizinethnologisch Forschende/r mit der Situation konfrontiert, in mehr oder weniger professioneller Form Hilfe leisten zu können. Ein Medikament aus der eigenen Reiseapotheke, finanzielle oder logistische Hilfe für den Besuch eines Krankenhauses oder einer anderen therapeutischen Instanz oder auch nur Ratschläge aus der eigenen, möglicherweise vom Gegenüber auch überschätzten „medizinischen“ Erfahrung wird kaum verweigert werden können. Gleichzeitig impliziert die problemorientierte Ausrichtung vieler medizinethnologischer Forschungsansätze den mehr oder weniger offen formulierten Anspruch, Leiden zu vermindern und die medizinische Versorgung der Menschen, mit denen sich die Forschung beschäftigt, zu verbessern. Damit greift der oder die Forschende jedoch unter Umständen aktiv in die zu beobachtenden sozialen Prozesse rund um Krankheit und Medizin ein. Aus der nur „teilnehmenden“ wird eine „(be)handelnde“ Beobachtung, und die entsprechenden Aktivitäten des/der Untersuchers/Untersucherin können aus methodologischer Perspektive als ein Störfaktor bezeichnet werden, der das Forschungssetting substantiell verändert. Im Rahmen des Vortrages sollen die methodischen Konsequenzen dieser im medizin­ethnologischen Forschungskontext vielfach relevanten Handlungsneigung exemplarisch an der vergleichsweise „extremen“ Situation meiner Doppelrolle als ethnologisch forschender Arzt betrachtet werden. Sowohl der vermeintliche Handlungsimperativ selbst, vor allem aber die Frage, inwieweit ein therapeutisches oder auch anders geartetes, „helfendes“ Eingreifen in die zu beobachtenden sozialen Prozesse die Forschung „stört“ und die Ergebnisse beeinflusst, werden dabei zur Sprache kommen. Meine an verschiedenen Beispielen zu belegende Grundthese wird dabei sein, dass all jene Aspekte, die auf den ersten Blick als „Störfaktoren“ der wissenschaftlichen Arbeit erscheinen mögen, methodologisch kreativ genutzt werden können.

 

„Diskursanalyse und Medizinethnologie“ (Deutschland)

Elsbeth Kneuper
Institut für Tropenhygiene und Public Health, Universität Heidelberg

Die Diskursanalyse hat zwar Implikationen für die Art und Weise, wie Daten erhoben werden. Grundsätzlich ist sie ein Verfahren der Datenanalyse. Ihre Bedeutung für die Medizinanthropologie besteht darin, dass sie die Frage nach der Wirksamkeit von Heilen zurück stellt. Das ist, wie sich fast von selbst versteht, gerade für die Biomedizin, die so sehr auf Wirksamkeit fixiert ist, eine Provokation. Was bei der Fixierung auf „Wirksamkeit“ im biomedizinischen Verständnis allerdings leicht übersehen wird, ist der Umstand, dass diese „Wirksamkeit“ nur mit Blick auf definierte und ethisch gerechtfertigte Ziele und Verfahren, den Erfolg zu verifizieren, eine definierte Kategorie darstellt. Die Methoden, die die Biomedizin dafür anbietet, sind stochastischer bzw. statistischer Art. Diese konzeptuelle Vorentscheidung führt dazu, dass Menschen in biomedizinisch geprägten Gesellschaften potenzielle Krankheiten im Modus des statistischen Risikos auf sich beziehen. Für eine diskursanalytische Auswertung von Forschungsdaten bedeutet das, dass sie versuchen muss, „Risiko“ einerseits als Bestandteil des Medizindiskurses zu verstehen und die diskursive Funktion des Risikobegriffs andererseits mit den im Datenmaterial repräsentierten Vorstellungen von Risiko abzugleichen. Dabei zeigt sich, dass die Interpretationen von „Risiko“ beträchtlich variieren. Obwohl der Risikobegriff Menschen in gleicher Weise in den Medizindiskurs einbindet, verstehen sie durchaus Verschiedenes unter „Risiko“. Für die Biomedizin hat dieser Umstand die bedenkenswerte Konsequenz, dass darüber, wie ihr therapeutischer Erfolg begriffen werden kann, keine übereinstimmenden Vorstellungen bestehen. Der methodische Ertrag dieser Einsicht ist also zweierlei: Zum Einen rechtfertigt das Ergebnis die Einklammerung von Fragen der therapeutischen Wirksamkeit. Zum Anderen wird jedoch ein Aspekt der Diskursanalyse im Sinne von Foucault entschieden fragwürdig: Die Vorstellung, das Subjekt sei gleichsam ein Artefakt der Diskurse und ihm käme keinerlei Selbstständigkeit zu, verträgt sich kaum mit den zum Teil sehr eigenständigen Auffassungen der Nutzerinnen, Nutzer des biomedizinischen Systems. Entsprechend geht der Vortrag der Frage nach, wie sich das Individuum als Produkt von Diskursen das Subjekt der Handlungen und des Erlebens artikuliert und welche methodischen Implikationen die Berücksichtigung genuiner Subjektivität für die medizinanthropologische Forschung hat.

 

„Teilnehmende Beobachtung auf dem Prüfstand: Grenzen und deren Überwindung in einer Forschung zu HIV/AIDS“ (Malawi)

Angelika Wolf
Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth

In einer ethnologischen Forschung zu HIV/AIDS sind die Grenzen der teilnehmenden Beobachtung schnell erreicht. Selbst das Sprechen der indigenen Sprache als wesentliches Mittel von Kommunikation und Teilhabe am Alltag scheitert anbetracht der Dimension von Leid und den oft unaussprechlichen Erfahrungen. Da das Thema AIDS zudem tabuisiert ist und Betroffene häufig einer Stigmatisierung ausgesetzt sind, wird auch in Afrika über die Erkrankung oft nicht direkt sondern in verklausulierter Form gesprochen. Und wie häufig im Falle von Krisen und Epidemien wird eine Fülle von Metaphern zur Umschreibung verwendet. Wenn emotionale oder kulturelle Grenzen die Datenerhebung erschweren, ist nicht nur eine besondere Aufmerksamkeit während der Feldforschung gefragt. Auch die Analyse von Daten und ihre Auswertung bedürfen einer besonderen Reflektion. In diesem Prozess müssen Entschlüsselungen auf mehreren Ebenen vorgenommen werden. Eine besondere Rolle spielen hier Techniken des Erkennens von Metaphern, die nicht so sehr den Prozess der Datenerhebung als vielmehr methodologische Fragen ihrer Analyse und Auswertung betreffen. Wird Krankheit als Möglichkeit des Zugangs zu gesellschaftlichem Umgang mit Krisensituationen verstanden, können mit Hilfe von Metaphern Einblicke in kulturelle Prozesse gewonnen werden. Auf methodologischer Ebene spielt hier die Thematisierung des Körpers eine besondere Rolle, indem dieser nicht nur als Objekt und Symbol für etwas, sondern im Sinne von Csordas als Subjekt und als Akteur betrachtet wird. Die Analyse von Metaphern bleibt dann nicht auf die kognitive Ebene beschränkt, sie sind nicht nur mehr Metaphern über den Körper, sondern auch vom Körper.

 

Programm

Samstag, 4. Oktober 2003
9.30 Uhr Einlass
9.40 – 9.45 Begrüßung (Hansjörg Dilger)
9.45 – 10.00 Inhaltliche Einführung (Angelika Wolf)
10.00 – 10.30 Stefan Ecks „Selbstmord: Reflexionen über die medizin-ethnologische Erforschung des Leidens“ (Indien)
10.30 – 11.00 Vera Kalitzkus „Subjektivität und Reflexivität im qualitativen Forschungsprozess. Eine Studie zu Organtransplantation in Deutschland“
11.00 – 11.30 Michael Knipper „(Be-)Handeln und Forschen. Methodische Konsequenzen aus dem „Handlungsimperativ“ in der Medizin­ethnologie“ (Ecuador)
11.30 – 12.10 Pause
12.10 – 12.40 Elsbeth Kneuper „Diskursanalyse und Medizinethnologie“ (Deutschland)
12.40 – 13.10 Angelika Wolf „Teilnehmende Beobachtung auf dem Prüfstand: Grenzen und deren Überwindung in einer Forschung zu HIV/AIDS“ (Malawi)
13.10 – 13.25 Zusammenfassung (Bernhard Hadolt)
13.25 – 14.25 Offene Diskussion (Leitung: Hansjörg Dilger, Michael Knipper)